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Saturday, July 4, 2020

Thema Fleisch : Fleisch kaufen ohne schlechtes Gewissen - Berliner Zeitung

tosokpopo.blogspot.com

BerlinSo muss eine Metzgerei aussehen: Glastür und Schaufenster sind in Messing eingefasst, auf dem Logo prangt ein munteres Schweinchen. Seit der Corona-Krise stehen die Leute hier Schlange. „Die Bürger kommen jetzt wieder zu den Metzgereien“, sagt der Besitzer des Geschäfts, Metzgermeister Jörg Erchinger. Die Kunden fanden im Lockdown zu ihm, weil einige Supermärkte den Fleischbedarf nicht mehr decken konnten, später kam die Krise der großen Schlachthöfe. Heute fühlt sich Erchinger wieder als Nahversorger. „Viele Kunden sind hängen geblieben“, sagt der 46-Jährige.

Seit 1971 gibt es die Metzgerei an der Greifswalder Straße 205 (Ecke Marienburger Straße) in Prenzlauer Berg. Seit sieben Jahren führt Erchinger sie. Die Zeitschrift Feinschmecker kürte den Betrieb im vergangenen Jahr zur besten Fleischerei Berlins. Dass Marco Müller, Küchenchef im 2-Sterne-Lokal Rutz, bei ihm Fleisch bestellt, bestätigt Erchinger.

Er verkauft Neuland-Fleisch und ist damit einer von rund 20 Neuland-Fleischern in Berlin, die sich bewusst gegen Massentierhaltung und Großschlachthöfe entschieden haben. „Wir haben einen hohen ethischen Standard“, sagt Erchinger. Er überlege sich dreimal, was er mit einem Stück Fleisch mache. „Ich will dem Tier, das dafür gestorben ist, die höchstmögliche Wertschätzung geben“, sagt er.

Die Kunden sähen dagegen häufig nur den Preis, der bei Neuland höher ist als im Supermarkt. „Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nicht auch noch ein billiges Fahrrad verkaufen kann, das eigentlich Schrott ist“, erwidere er manch nörgelndem Kunden. Der Handel finanziere die niedrigen Fleischpreise über das Vollsortiment. Erchinger hat selbst mehrere Jahre als Abteilungsleiter im Handel gearbeitet. „Jeder Fleischtresen in einem Supermarkt ist ein Null- oder ein Minusgeschäft“, sagt er.

Ihn stört es, dass der Beruf des Fleischers nicht mehr genug Anerkennung erfahre. Einmal sei eine Kundin ins Geschäft gekommen und habe zu ihrem Kind gesagt: „So was passiert, wenn du in der Schule nicht aufpasst: Dann musst du später auch so was tun.“ Er habe die Frau aufgefordert, das Geschäft zu verlassen und sich zu entschuldigen. Doch die Begebenheit ist nur ein Symptom. Ein anderes ist das geringe Interesse an einer Ausbildung. Erchinger findet kaum Bewerber.

Und so verwundert es nicht, dass der Fleischer um die Ecke eine aussterbende Spezies ist. Ganze 70 Fleischereifachgeschäfte gibt es in Berlin, berichtet Geschäftsführer Martin Stock von der Fleischer-Innung Berlin. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren es noch 4000. Die Innung gibt sich dennoch optimistisch. „Aspekte wie Regionalität, Tierschutz und Tierwohl finden zunehmend Eingang in die Kundenerwartung“, sagt Stock. Wer als Einzelhandelsgeschäft gegen die Supermärkte bestehen möchte, habe sich in der Regel „Qualitätsfleischprogrammen“ wie Neuland angeschlossen und beziehe von dort das Fleisch. Ein weiterer wichtiger Aspekt: die Herkunft des Fleischs. Stock nennt es „Transparenz beim Ur-Produkt“. In einigen Neuland-Fleischereien laufen über der Fleischtheke Videos, in denen die Bauernhöfe gezeigt werden, von denen die Verkaufsware stammt.

Doch bislang ist der Anteil von Fleisch aus artgerechter Tierhaltung am Gesamtumsatz noch gering: Er liegt nach Schätzungen bundesweit bei etwa zwei Prozent. Die durchschnittlich verzehrte Fleischmenge pro Person liegt jährlich bei 60 Kilogramm – davon wären demnach 1200 Gramm oder ein Hühnchen Biofleisch. Die Chicken Wings für 2,44 Euro/Kilo oder die Spare-Ribs für 5,87 Euro/Kilo lassen den Ruf nach einem besseren Umgang mit den Tieren, die uns ernähren, schnell verstummen.

Einer, der einen Kompromiss zwischen Tierwohl und dem Wunsch der Verbraucher nach günstigem Fleisch versucht, ist der Brandenburger Schweinebauer Ralf Remmert in der Prignitz. Rund 8300 Schweine hält er in Neudorf und denkt dabei „vom Tier aus“, wie er sagt. Vor zehn Jahren begann er, das Zähneschleifen bei Ferkeln zu unterlassen. Es soll verhindern, dass Ferkel die Sauen beißen. „Ich muss als Tierhalter dafür sorgen, dass die Ferkel nicht so hungrig werden, dass sie beißen“, sagt er. Nach und nach schuf er Kastrationen und das Kupieren von Ringelschwänzen ab. In der Branche findet Remmert Nachahmer. Er hält Vorträge und hat eine Gesellschaft für Wissenstransfer gegründet. Sein Fleisch wird bei Rewe als „Rewe regional“ angeboten und ist nur etwa ein Drittel teurer als Fleisch aus konventioneller Haltung.

In allen Supermärkten gibt es mittlerweile – mehr oder weniger große – Abteilungen mit Bioprodukten. „Der Anteil an Bio wächst konstant“, sagt Rewe-Sprecher Thomas Bonrath. Auch Lidl führt nach eigenen Angaben in Berlin Bio-Rinderhack und Bio-Schweinemedaillons. Wie viel es davon verkauft, sagt das Unternehmen nicht.

Dass die Konsumenten tatsächlich umdenken, bezweifelt Marcus Benser, ein für seine Blutwurst stadtbekannter Fleischer vom Neuköllner Richardplatz. Benser ist seit 20 Jahren im Geschäft und beobachtet die Kunden. „Die Gesellschaft ist gespalten, die Konsumenten auch“, sagt er. Die katastrophalen Verhältnisse in der Fleischindustrie seien seit langem bekannt. Die Kunden wüssten, dass ein Fleischpreis unter zehn Euro pro Kilo nicht darstellbar sei, außer mithilfe von unterbezahlten Werkarbeitern aus Rumänien. Und dennoch: „Am Wochenende werden wieder die Grills mit Fleisch aus Supermärkten rauchen“, sagt er. Wie diese Lücke zwischen Denken und Handeln bei den Konsumenten zu schließen ist, könne er nicht sagen.

Benser sieht eine Chance in der Corona-Krise. Wie Erchinger hat auch er seit dem Lockdown mehr Kundschaft – die Umsätze seien um 30 Prozent gestiegen. „Was für ein schöner Laden. Den haben meine Familie und ich jetzt erst entdeckt“, höre er in diesen Tagen öfter. Das Homeoffice habe vielen Berufstätigen Zeit für den Einkauf im Kiez verschafft, die sonst erst nach Ladenschluss nach Hause kommen. Dass die Kinder die Würstchen lecker und die Erwachsenen Gefallen am Fleisch finden, komme hinzu. Benser wünscht sich, dass die Erfahrungen aus der Krisenzeit zu tieferen Erkenntnissen führen, als nur, dass Fleisch aus der Fleischerei besser schmeckt.

Fleischereien in Berlin: 

1. Kumpel & Keule, Eisenbahnstr. 42–43, Kreuzberg, in der Markthalle Neun, Mo–Sa 9–18 Uhr, www.kumpelundkeule.de

2. Fleischerei Bünger, Westfälische Str. 53, Wilmersdorf, Mo–Fr 8.30–18.30 Uhr, Sa 8–13.30 Uhr, www.fleischerei-buenger.de

3. Fleischerei Bünger, Müllerstr. 156a, Wedding, Mo–Fr 7–18.30 Uhr, Sa 8–15 Uhr, www.fleischerei-buenger-wedding.de

4. Blutwurstmanufaktur, Karl-Marx-Platz 9–11, Neukölln, Mo–Fr 8–18 Uhr, Sa 8–13 Uhr, www.blutwurstmanufaktur.com

5. Fleischerei Jörg Staroske, Potsdamer Str. 116, Tiergarten, Mo–Fr 7–18 Uhr, Sa 8–13 Uhr, www.spanferkel.de

6. Fleischerei Frank Bauermeister, Danckelmannstr. 11, Charlottenburg, Di–Fr 8–18.30 Uhr, Sa 8–14 Uhr, www.fleischerei-bauermeister.de

7. Fleischerei Bachhuber, Güntzelstraße 47, Wilmersdorf, Mo–Fr 8–18 Uhr, Sa 8–13 Uhr, www.fleischerei-bachhuber.de

8. DelikatEssen Discounter, Best Beef Edelfleischerei, Güntzelstr. 40, Wilmersdorf, Mo–Fr 8–20 Uhr, Sa 8–16 Uhr, essenwieimrestaurant.de

9. Berliner Wildfleischhandel, Großbeerenstr. 96, Kreuzberg, Di, Do, Fr 12–18 Uhr, www.wildfleisch-berlin.de

10. Erchinger Fleisch und Wurstmanufaktur, Greifswalder Str. 205, Prenzlauer Berg, Mo–Mi 8-18.30 Uhr, Do, Fr 8–19 Uhr, Sa 8–16 Uhr, auch am Markt am Arnswalder Platz, Markt am Kollwitzplatz, Markt am Helmholtzplatz, www.fleischerei-erchinger.de

11. Fleischerei Gottschlich, Prenzlauer Allee 219, Prenzlauer Berg, Mo–Fr 8–18 Uhr, Sa 8–13 Uhr, www.fleischerei-gottschlich.de

12. The Sausage Man Never Sleeps, Eisenbahnstraße 42–43, Kreuzberg, in der Markthalle Neun, Sa 10–18 Uhr, www.thesausagemanneversleeps.com




July 04, 2020 at 01:14PM
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