Soest – Nur noch 20 Stunden arbeiten, auf überflüssigen Luxus verzichten und dafür gemeinsame Autos und Werkzeuge nutzen: Niko Paech zeichnet ein Zukunftsbild, das von weniger Konsum geprägt ist. Wie Soest in zehn Jahren aussehen könnte, warum es kaum Alternativen gibt und weshalb die Bürger den Regierungen entgegenkommen sollten, darüber sprach er mit Anzeiger-Redakteur Jürgen Vogt.
Wirtschaft, Umwelt, Gesundheit, Soziales: Wohin der Blick auch geht, Sie diagnostizieren nichts als Sackgassen. Bekommen wir die Karre noch mal aus dem Dreck?
Wir werden die Karre aus dem Dreck bekommen. Allerdings nicht so wie wir das aus den parlamentarischen Demokratien gewohnt sind. Wir haben den Klimaschutz vernachlässigt, deshalb verändern sich nun die Bedingungen: Die Sommer werden immer brutaler. Das hat Auswirkungen auf die Landwirtschaft, aufs Trinkwasser, die Biodiversivität und die Gesundheit. Wir werden durch diesen Leidensdruck in der Lage sein zu reagieren.
Welche Risiken sehen Sie außerhalb der ökologischen Krise?
Viele weitere, die uns zum Meister des Wandels werden lassen. Ich denke da an die Energiepreise, die eine Täuschung sind, weil wir jetzt etwa durch das Fracking niedrige Preise haben. Das kann nicht lange durchgehalten werden – und steigt der Preis, dann ist die Party vorbei, weil wir das durch Regeneratives nicht ausgleichen können. Auch die Brüchigkeit des Euroraums ist eine Dauerkrise und Dauerlöschübung.
Worin liegt bei all dem die Chance?
Ich glaube an eine Mischung aus Realismus und Optimismus: Es muss erst schlimmer werden, um dann Konsequenzen zu ziehen, damit wir der Sackgasse rauskommen. Wie kann das gehen mit einer Wirtschaft, die auf Wachstum setzt? Natürlich ist unsere Wirtschaft auf Wachstum ausgelegt. Das hat zu tun mit industrieller Arbeitsteilung und der Fähigkeit, die menschliche Arbeitskraft zu potenzieren. Die Digitalisierung ist die Krönung dieser industriellen Revolution.
Können Sie erklären, warum es den Wunsch nach einem „immer mehr“ gibt?
Die materielle Selbstverwirklichung ist eine Visitenkarte für den Menschen. Es hängt von den Äußerlichkeiten ab, wie ich wahrgenommen werde. Und die Menschen wollen kein Schamgefühl haben, sich nicht schämen, weil sie kein Apple-Notebook, keinen Armani-Anzug und keinen Mercedes haben. Ich muss dann schon aus defensiven Gründen nachrüsten, da muss ich nicht mal gierig sein.
Nur noch 20 Stunden arbeiten, dafür Werkzeuge und Autos gemeinsam nutzen und das Fernweh an der Nordsee stillen: Diese von Ihnen empfohlene Reduktion empfinden viele Menschen als Bedrohung. Was entgegnen Sie diesen Menschen?
Es ist ein interessantes Indiz dafür, in welchem mentalen Zustand die Gesellschaft ist, wenn sie es als Bedrohung ansieht, den Ballast abzuwerfen, an dem sie unterzugehen droht. Das betrifft nicht den Hartz-Vier-Empfänger. Aber wer materiell weit über seinen Bedürfnissen lebt, den kann ich nicht ernst nehmen, wenn er das als Bedrohung empfindet.
Wie lautet Ihre Therapieempfehlung?
Wir können in kleinen Schritten soziale Netzwerke gründen. In denen hat die Suffizienz – das ist ein Synonym für Entsagung – eine Untergrenze. Ich finde nämlich, dass kein Konsum auch keine Lösung ist. Das Leben macht keinen Spaß, wenn wir nicht konsumieren. Wir leiden eher an einem Überkonsum.
Warum?
Wir können zeigen, dass es seit Jahrzehnten schon keinen Zusammenhang mehr gibt zwischen dem Wohlbefinden und der Kaufkraft.
Was raten Sie denen, die einen alternativen Weg einschlagen wollen?
Es gibt Übungsprogramme, um das Leben zu entrümpeln. Jeder Mensch kann das machen. Das macht Spaß und man wirft Ballast ab. Das Gute daran: Die meisten Menschen haben Angst vor Krisen, weil sie glauben tief zu fallen. Wer aber seine Abhängigkeit schon reduziert hat, hat auch seine Angst reduziert.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Wer kein Auto finanzieren muss, keine Flugreise zu bezahlen hat, sich Waschmaschine und Bohrmaschine teilt, ist weniger angreifbar. Aber das können wir nur schrittweise schaffen, mit einem kollektiven Übungsprogramm, mit viel Humor und einem Lied auf den Lippen.
Sie legen wert auf Humor. Warum?
Weil der Mensch kein rational orientiertes Lebewesen allein ist. Die Gefühle sind handlungsleitend. Ich finde, dass die Wirtshäuser und Spielstätten auf keine Fall zurückgebaut werden sollten. Wir brauchen schöne Dinge, die den kleinen Luxus ausmachen. Und fröhlich zu sein, Humor zu haben und Selbstironie, das macht es leichter.
In Ihrem Buch „All you need is less“ ziehen Sie und Manfred Folkers Vergleiche zwischen unserer Wirtschaft und dem Buddhismus. Wie kann der Buddhismus helfen, die aktuellen Bedingungen zu verstehen?
Unsere Idee war es, die Themen Begnügsamkeit und Reduktion aus zwei denkbar unterschiedlichen Perspektiven darzulegen. Manfred Folkers aus der buddhistischen und ich aus der ökonomischen. Sie streben einen echten Mentalitätswandel an. Wie kann das funktionieren? Ich vertrete die These, dass wir gerade einen Paradigmenwechsel erleben. Weg von der „Kuschelnachhaltigkeit“, die richtet eher Schaden an. Wenn die technischen Möglichkeiten nicht mehr ausreichen, dann kann die Politik nicht mehr funktionieren, wenn es um die Fragen der Lebensgrundlagen geht.
Warum?
Weil uns dann nur noch Reduktion hilft. Die Politik kann nur noch Regelungen in Anschlag bringen, die unser Leben drastisch verändern. In einer Demokratie gegen die Lebensgewohnheiten vorgehen, das geht aber nicht. Die Politik kann so etwas nur im Flüsterton benennen, wenn ein Teil der Bevölkerung das schon angefangen hat. Deshalb brauchen wir Störenfriede und Menschen, die der Politik sagen: Wir wollen keine Fernreisen mehr, essen kaum Fleisch, fahren Fahrrad.
Dann sind wir beim Kern Ihrer Postwachstumsstrategie.
Ja. Das ist mein Versuch, die Politik zu retten. Demokratie ist nach meinem Verständnis auch die Verantwortung für die, die uns regieren. Ich will der Politik Mut machen, Klimaschutz und Nachhaltigkeit anzugehen, ich will ihr helfend entgegeneilen.
Sie wenden sich in der kommenden Woche ganz konkret an Soester Bürger und heimische Schüler: Was erwartet die Besucher ihrer Veranstaltungen?
Ich möchte einen Überblick geben über das Konzept der Postwachstumsökonomie. Was muss man können? Um welche begleitenden Selbstversorgungsmaßnahmen geht es? Wie können wir autonomer und damit krisenstabiler werden?
Wegen der Corona-Krise finden Ihre Vorträge online statt. Sind Sie trotzdem physisch in Soest?
Nein. Ich mache das von meinem Schreibtisch aus.
Blicken wir zehn Jahre nach vorn: Wie sieht Soest 2030 aus?
Ich glaube, die Soester werden weniger Autos fahren, aber es gibt noch welche für die, die nicht so gut zu Fuß sind. Es wird sehr viele Lastenfahrräder geben in Soest. Der Fleischkonsum wird deutlich niedriger sein. Die Soester werden mehr im Garten sein, gemeinsam Obst und Gemüse anbauen, es wird mehr Genossenschaften und mehr Verleihsysteme geben. Unternehmen werden die Nase vorn haben, die Menschen helfen, mit weniger Geld würdig zu leben. Es wird in Soest Kooperationen mit Landwirten geben, die ihre ökologische Ernte an 100 bis 200 Menschen verkaufen und damit Planungssicherheit haben.
Zurück in die Gegenwart: Wie viele Stunden arbeiten Sie pro Woche?
20.
INFO
Der Online-Vortrag „Wachstumskritik und Gegenentwurf – All you need is less“ findet am kommenden Montag, 7. September, ab 18.30 Uhr statt. Anmeldungen werden von den Veranstalterinnen Ute Buschhaus und Barbara Kastor per Mail an paech-in-soest@web.de entgegengenommen. Interessierte erhalten einen Link zum virtuellen Vortragsraum. Am Dienstag, 8. September, folgt eine Online-Veranstaltung für die Oberstufen Hannah-Arendt-Gesamtschule, der Ini-Gesamtschule in Bad Sassendorf, des Archi-Gymnasiums und des ConvoS. Nach den Vorträgen haben die Zuschauer die Möglichkeit, Fragen zu stellen und zu diskutieren.
September 06, 2020 at 05:05PM
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"2030 werden die Soester weniger Fleisch essen" - soester-anzeiger.de
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Fleisch
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