Von Nils Pickert, 5. August 2020
Weil unser Autor seinen Kindern seine vegetarische Lebensweise nicht aufzwingen will, muss er etwas Grauenvolles beschönigen.
Während der Ferienzeit publizieren wir Texte, die besonders zu reden gaben. Dieser Beitrag erschien erstmals am 24. Juni 2020.
Als ich mit den Kindern vor ein paar Monaten der Lebenskomplizin nachgezogen bin, hab ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, wohin es eigentlich geht. Also natürlich wusste ich, in welche deutsche Stadt es geht, und wenn sie uns nicht gefallen hätte, wäre ein Umzug überhaupt nicht infrage gekommen. Münster stand auf der «Kann man machen, wird schön da, lass uns da leben»-Liste (wir haben für alles Listen). Mir war auch das Bundesland egal. Dass es aber gerade zu Corona-Zeiten etwas ganz anderes ist, ob ich in Berlin, im nördlichen Schleswig-Holstein oder im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen lebe, hatte ich nicht auf dem Schirm. Und jetzt sitze ich in NRW mit einem Ministerpräsidenten, der sich vor Aufregung, alles wieder öffnen zu wollen, beinahe überschlägt und mit seinen Ambitionen auf die Kanzlerschaft landespolitisch so dermassen nervt, dass ich mich häufiger bei dem Satz «Okay, für NRW war es vielleicht nicht der beste Zeitpunkt!» ertappe.
Und jetzt auch noch #Meatgate. In Nordrhein-Westfalen sind ziemlich viele Schlachthöfe und Fleischfabriken ansässig, die sich allmählich als Corona-Hotspots entpuppen, weil Anbieter wie die Firma Tönnies Menschen gegen sehr geringen Lohn im Akkord und dicht an dicht Schweinehälften auseinandernehmen lässt und sie nach getaner Arbeit in Baracken zusammenpfercht. Alles ausgesprochen unerfreulich.
55 Millionen Schweine in 365 Tagen?
Jetzt könnte man meinen, dass mich das als Vegetarier nicht sonderlich interessiert. Dass ich kein Fleisch mehr esse, wie ich hier schon gelegentlich berichtet habe, hängt unter anderem auch damit zusammen: Ich will mit solchen Vorfällen einfach nichts mehr zu tun haben. Mit Fleischskandalen, Schnitzelschrecken, Kadaverbullshitbingo – wie immer Sie das nennen wollen. Ich habe aber natürlich trotzdem damit zu tun, weil ich der Koch meiner Familie bin und alle anderen zumindest gelegentlich Fleisch konsumieren.
Wieso reden wir eigentlich nie über Lieferketten, Fleischpreise, Schlachtungsmethoden und Arbeitsbedingungen?
Das kommt mir in den Sinn, wenn ich in den Nachrichten höre, dass an einem einzigen Tönnies-Standort pro Tag 48’000 Schweine zerlegt werden. Die grossen Zahlen kannte ich schon vorher. Dass in Deutschland sechsmal so viele Schweine pro Jahr geschlachtet werden, wie die Schweiz Einwohnerinnen und Einwohner hat, wusste ich bereits. Aber 55 Millionen auf 365 Tage, das ist abstrakt hoch. 48’000 Schweine, ein Betrieb, an einem Tag – das ist für mich hingegen intellektuell sehr fassbar. Ich höre also die Nachrichten und stelle mir vor, wie es wohl wäre, wenn die Sprecherin verkündet, dass Deutschland aufgrund der Ereignisse von heute auf morgen den Fleischverzehr einstellt. Wie wäre das? Ginge das? Was würde das bedeuten?
Erblindung in der moralischen Grauzone
Müssten wir uns an Herden von Hausschweinen und Rindern gewöhnen, die durch Städte ziehen? Ich finde die Idee ziemlich interessant. Andere sind allerdings nicht so begeistert. Zum Beispiel auch deshalb, weil wir den jetzigen Bestand an Tieren dann ja notschlachten müssen. Oder weil nicht nur Arbeitsplätze, sondern ganze Existenzen und Lebensbiografien daran hängen. Aber ist es nicht zumindest fragwürdig, eine fiktive «vegetarische Revolution» moralisch mit der Schlachtung von Tieren zu erpressen, die andernfalls auf jeden Fall geschlachtet und verzehrt werden? Und wieso reden wir eigentlich nie über unsere wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeiten von Fleischkreisläufen? Über Lieferketten, Fleischpreise, Schlachtungsmethoden und Arbeitsbedingungen?
Das ist doch seltsam. Wir beanspruchen nicht nur das Recht für uns, selbst über unseren Fleischkonsum zu entscheiden (was ich richtig finde), sondern bestehen auch auf dem Recht an Desinformation und Ignoranz (was ich falsch finde). Und ich bin ein Teil davon. Ich rede sehr verkürzt und sehr beschönigend darüber, wie die Bratwürstchen auf den Teller meiner Jüngsten gekommen sind, wenn sie mich fragen. Lügenmärchen kommen bei uns immer mit auf den Tisch. Ich stelle eine Situation her, die Fleischverzehr erst ermöglicht. Ich beschönige etwas, von dem ich mich selbst mit Grauen abgewendet habe. Weil ich ihnen meine vegetarische Lebensweise, meine Entscheidung nicht aufzwingen will. Gleichzeitig verleite ich sie zu einer fleischverzehrenden Lebensweise, weil ich das alles mitmache und wie die meisten anderen oftmals so tue, als wäre das Filetstück «irgendwie» in der Pfanne gelandet. O.k., ist bio, und bestimmt waren die Tiere total glücklich. Ja, und?
Wahrscheinlich würde mir auch deshalb so ein eigentlich unmöglicher und vermutlich total unvernünftiger Schlussstrich gut gefallen. Dann würde ich nicht permanent in meiner eigenen ethischen Grauzone moralisch erblinden. Bis ich eine Lösung für dieses Dilemma gefunden habe, werde ich also noch eine ganze Weile orientierungslos herumtasten. Und brauche mich nicht zu wundern, wenn ich dabei in eine Schweinehälfte greife.
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