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Sunday, August 9, 2020

Fleisch versus vegan: Warum sich so viele Fleischesser von Veganern bedroht fühlen - RND

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Eigentlich wollte Marco Keller nur seinen Vater abholen, von einem befreundeten Landwirt. Auf dem Bauernhof angekommen, fand Marco die beiden im Schlachtraum. Die Halle dampfte. Ein Schwein wurde zerlegt, die Innereien lagen auf dem Tisch. Sein Vater stand entspannt daneben und schlug dem damals 18-Jährigen vor, noch zum Essen zu bleiben. Am Tisch reichte man Marco, damals ein leidenschaftlicher Fleischesser, ein frisches Leberwurstbrot. “Es war brutal”, sagt er heute. Der Gedanke, dass dieses Lebewesen in allen möglichen Teilen um ihn herumlag, während er etwas davon aß, ließ ihn würgen. Jeder Bissen fühlte sich falsch an. Es war das letzte Wurstbrot seines Lebens.

Der Freiburger Filmemacher ist mittlerweile 41 Jahre alt und verdient sein Geld mit Filmen wie “Agrokalypse – der Tag, an dem das Gensoja kam”. Darin zeigt er, welche Konsequenzen der Anspruch vieler Menschen auf ihr tägliches Steak hat. Aus Marco, dem passionierten Fleischesser, ist damals ein überzeugter Vegetarier geworden. Jahre später stieg er auf ganz auf vegane Ernährung um.

Fleischesser fühlen sich bedroht: Veganer spiegeln unser eigenes Essverhalten

Wie lebt es sich damit? Wie gehen seine Mitmenschen damit um? Denn auch wenn die Ernährungsweise mittlerweile im Mainstream angekommen ist, reagieren manche Menschen noch immer befremdet auf Hafermilchtrinker.

“Veganer treffen einen Nerv, weil sie unser eigenes Essverhalten spiegeln”, sagt der Soziologe Martin Winter von der TU Dortmund, der sich auf solche Fragen spezialisiert hat. Das Essverhalten der Veganer zeige, dass das, was der Rest von uns für selbstverständlich hält, letztlich Entscheidungen sind, die jeder von uns trifft. Schätzungen zufolge verzichten etwa eine Million Deutsche ganz auf tierische Produkte. Manche aus Tierliebe, andere, weil die vegane Küche als gesund und klimafreundlich gilt. Die Gründe sind vielfältig und so bunt wie der Lifestyle, der sich rund um die vegane Ernährungsweise entwickelt hat. Der typische Veganer unserer Zeit ist weiblich, jung, gebildet und nimmt lebhaft am Ernährungsdiskurs teil – auf Youtube, in Zeitungsartikeln oder in Form von Blogs.

In größeren Städten trifft sich die vegane Szene. Hummusimbisse und vegane Burgerläden locken die junge Klientel an. Es gibt Professoren, die sich mit der veganen Ernährungsweise auseinandersetzen, Psychologen, die sich auf Veganer spezialisiert haben, und Haustiere, die rein pflanzlich ernährt werden. Doch viele Menschen halten Veganer für politisch korrekte Besseresser. Manche fühlen sich regelrecht bedroht. Öffentlich äußern will sich aber kaum einer.

Knapp eine Million Menschen in Deutschland ernähren sich inzwischen vegan. © Quelle: RND/Statista

Kognitive Dissonanz: Menschen verspüren bei Diskussion um ihren Fleischkonsum unangenehmes Gefühl

Marco Keller bereitete schon Sojabolognese zu, als manche veganen Youtuber noch in den Plastikwindeln lagen. Sätze, mit denen er oft konfrontiert wird, lauten “Ich könnte das ja nicht, auf Fleisch verzichten” oder “Das kann doch nicht gesund sein” oder “Fehlen dir nicht die Proteine?”. Solche Sätze bilden oft den Auftakt zu einer Diskussion um den Fleischkonsum. Von sich aus redet er eher selten über das Thema. Das führe nur zu Abwehrverhalten, sagt er. Die Leute hätten schnell das Gefühl, sie müssten sich ihm gegenüber rechtfertigen.

Veganer zeigen nämlich: Es geht auch anders. Das irritiert, denn natürlich wissen alle, dass ein Tier sterben muss für das Steak. Aber essen wollen sie es eben doch. Diese Spannung bezeichnen Sozialpsychologen als kognitive Dissonanz. Demnach verspüren Menschen ein unangenehmes Gefühl, wenn mindestens zwei Überzeugungen und Verhaltensweisen nicht miteinander vereinbar sind.

Viele Fleischesser reagieren auf Widersprüche mit Verharmlosungen und Rechtfertigungen

Ein Beispiel: Wer an sich selbst beobachtet, dass er oft billiges Fleisch isst, und weiß, dass Tiere unter der Massentierhaltung leiden, ist einem Widerspruch ausgesetzt. Eine betroffene Person könnte das Problem lösen, indem sie aufhört, Fleisch zu essen. Um die eigene Komfortzone nicht verlassen zu müssen behelfen sich viele Menschen mit anderen Strategien. Sie verweisen darauf, dass sich die Tierhaltung verbessert habe. Sie blenden verstörende Tierdokumentationen oder Berichte über Massentierhaltung aus. Und sie reagieren auf Widersprüche mit Verharmlosungen oder stellen die Informationen gleich infrage. Nach dem Motto: “Ich glaube ja nicht, dass die Tiere stark leiden, wenn sie geschlachtet werden.” Solche Rechtfertigungsstrategien lassen sich in vielen gesellschaftlichen Debatten beobachten. Sie dienen der Dissonanzreduktion. Sprich: Sie lassen die unangenehme Anspannung verschwinden.

Für Keller funktionierten diese Strategien irgendwann nicht mehr. Er und seine Freunde gingen ins Reformhaus und kauften sich Sojagranulat. Das war Mitte der Neunzigerjahre. Seine Eltern kochten traditionell fleischlastig, er ernährte sich von den Beilagen und merkte: Das reicht nicht. Gericht für Gericht erkochte er sich ein fleischfreies Repertoire. Er war jetzt Andersesser. “Essen verbindet und stärkt den Gruppenzusammenhalt. Wirft jemand beim gemeinsamen Lagerfeuerabend sein Sojaschnitzel auf den Grill, schert er aus”, sagt Soziologe Winter. Das hat Folgen: Diese Person stellt den Konsens infrage – die Übereinkunft, dass es okay ist, Fleisch zu essen.

Fleisch steht für Männlichkeit: Die Debatte stellt Geschlechterfragen

Ronny Pfreundschuh kennt die Reaktion darauf nur allzu gut. Der 40-jährige Freiburger Partyveranstalter ernährt sich seit 20 Jahren vegan, galt anfangs ebenfalls als Exot. Vor allem in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Situation aus seiner Sicht verändert. Mittlerweile rechtfertigten sich die Leute vor ihm, sagten Sätze wie “Ich esse auch nur Fleisch, wenn ich weiß, wo es herkommt”. Es gebe längst einen extremen Hype um Veganismus. “Vegane Ernährung hat das Ökoschmuddelimage hinter sich gelassen”, sagt Pfreundschuh. Zudem ernährten sich Menschen aus unterschiedlichsten Gründen vegan. Früher seien viele Veganer aus der Tierrechtsbewegung gekommen. Heute gehe es auch um ökologische und gesundheitliche Motive.

Immer wieder jedoch entzünden sich Kontroversen um den Fleischkonsum. Sogar Geschlechterfragen berührt die Debatte. Kein Nahrungsmittel steht so sehr für Männlichkeit wie Fleisch. Stärke, Kraft, Einfluss – Fleisch war lange Zeit den reichen Gesellschaftsschichten vorbehalten und signalisierte Status. Heute ist es tendenziell umgekehrt. Den Konsum von Lebensmitteln mit den Attributen lokal, bio oder Fair Trade und eben auch die fleischlose Ernährung schreibt man eher den privilegierten Gesellschaftsschichten zu. Diese haben nicht nur das Geld, um sich die oft teureren Lebensmittel leisten zu können, sondern auch Zugang zu entsprechenden gesellschaftlichen Diskursen.

Trotzdem müssen sich gerade Männer die Frage gefallen lassen, ob sie genug Proteine zu sich nehmen. Das neue Narrativ aus der Veganszene lautet deshalb: Vegan sein heißt stark sein. So soll der Mainstream erreicht und der Veganismus aus der Nische geholt werden.

Die meisten Veganer pflegen auch abseits der Ernährung einen gesunden Lebensstil

Ohnehin macht sich unter den Fleischessern Skepsis breit. Die Deutschen essen seltener Fleisch als vor einigen Jahren. Im diesjährigen Ernährungsreport gaben 26 Prozent der Menschen an, täglich Wurst und Fleisch zu konsumieren. Vor fünf Jahren lag die Zahl noch bei 34 Prozent. Es tut sich also etwas. Womöglich fällt es einer zunehmenden Zahl von Menschen schwer, die eigenen Widersprüche auszuhalten.

Zudem leidet, wer viel Fleisch und Wurst verzehrt, mit höherer Wahrscheinlichkeit irgendwann an Krebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Diabetes. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) macht in einem Positionspapier zur veganen Ernährung deutlich, dass ballaststoffreiche Getreideprodukte sowie Gemüse und Obst viele Krankheitsrisiken senken können. Nur die Ernährung ist dabei jedoch nicht ausschlaggebend. Auch der Lebensstil entscheidet; die meisten Veganer pflegen ohnehin einen gesunden Lebensstil. Sprich: Sie rauchen nicht und trinken wenig Alkohol. Rechnet man diesen Faktor hinein und vergleicht die vegane Ernährungsweise mit pflanzenbetonter Mischkost, ergeben sich kaum Unterschiede für die Gesundheit.

Nicht alle veganen Nahrungsmittel verringern den ökologischen Fußabdruck

Letztlich empfiehlt die DGE das Flexitariermodell: eine pflanzenbetonte Mischkost mit wenigen tierischen Lebensmitteln. DGE-Sprecherin Silke Restemeyer hält die vegane Ernährung bei gut informierten Erwachsenen für unbedenklich.

Marco Keller fühlt sich jedenfalls gut. Klar könnte er hin und wieder ein Ei essen, aber er verzichtet auf tierische Produkte nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern aus ethischen. Ein Feld voller Soja kann viele Menschen ernähren. Wird dieselbe Menge Soja an Tiere verfüttert, werden wesentlich weniger Menschen satt.

Klassische vegane Nahrungsmittel wie Avocados, Chiasamen, Bananen und Kokosmilch verringern allerdings nicht gerade den ökologischen Fußabdruck. Keller isst keine Avocados. Allesesser würden vielleicht sagen: Was bleibt denn dann noch übrig? Eine Menge, antworten die Veganer. Marco Keller sagt: “Es ist kein Verzicht, sondern ein Gewinn – weil ich viel mehr ausprobiere als zu Fleischesserzeiten.”




August 09, 2020 at 07:01PM
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