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Wednesday, July 29, 2020

Werkverträge: Fleisch-GAU wird zur Last für deutsche Wirtschaft - WELT

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Seit Wochen stehen die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie nach den Corona-Ausbrüchen beim Schlachtkonzern Tönnies und auch anderen Unternehmen heftig in der Kritik. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat angekündigt, strikt durchgreifen zu wollen und unter anderem Werkverträge und Leiharbeit in der Branche zu verbieten.

Am Mittwoch soll das Bundeskabinett seinem Gesetzentwurf nun zustimmen. Doch die Pläne sind umstritten. Andere Branchen fürchten Einschränkungen. WELT beantwortet wichtige Fragen.

Was sind Werkverträge?

Mit einem Werkvertrag beauftragt ein Unternehmen ein anderes, ein bestimmtes „Werk“ für einen festgesetzten Preis zu erbringen. Auf diese Weise lassen sich sowohl Produktionsschritte auslagern, die zum Kerngeschäft des Auftraggebers gehören, als auch sogenannte Randprozesse.

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Das beauftragte Unternehmen entscheidet selbst, wie und wo es die Aufgabe erledigt und wie viele Beschäftigte es einsetzt. Es ist auch für Arbeitszeit und Lohn verantwortlich.

Was ist der Unterschied zur Leiharbeit?

Leiharbeiter unterstützen die Stammbelegschaft eines Betriebs. Sie werden für eine begrenzte Zeit von Zeitarbeitsfirmen ausgeliehen. Die Arbeitsleistung wird nach Stunden abgerechnet.

Der Auftraggeber ist Leiharbeitern gegenüber weisungsbefugt, und sie haften nicht für Mängel. Werkvertragsmitarbeiter dagegen sind komplett unabhängig vom Auftraggeber und dürfen nicht mit der Stammbelegschaft vermischt werden.

Wie verbreitet sind Werkverträge in der Wirtschaft?

Werkverträge sind in der deutschen Wirtschaft sehr verbreitet. Mehr als 90 Prozent aller Unternehmen nutzen Werkverträge, zeigt eine Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) von 2017.

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Zwölf Prozent der Unternehmen gaben an, dabei mit ausländischen Firmen zusammenzuarbeiten. Werkverträge werden aus unterschiedlichen Gründen eingesetzt, erklärt ZEW-Forscherin Angelika Ganserer: „Aufträge lassen sich so an Firmen mit spezialisierten Fachkräften vergeben, die man ansonsten auf dem Arbeitsmarkt nicht finden würde oder nur für eine bestimmte Aufgabe braucht.“ Ein Beispiel ist die Beschäftigung eines Handwerkers.

Aber auch saisonale Produktionsspitzen lassen sich so auffangen. Beim Wursthersteller Wolf aus Bayern zum Beispiel sind fast 500 Arbeiter mit Werkverträgen angestellt, vornehmlich im Sommer, wenn die Nachfrage nach Grillwürsten besonders hoch ist. Im Winter gehen dann viele zurück in die Heimat. „Oder sie arbeiten in der Lebkuchenproduktion“, wie Wolf von den Helfern im Werk Nürnberg berichtet.

Was ist das Problem an Werkverträgen?

Sie werden mitunter genutzt, um auf unrechtmäßige Weise Kosten zu sparen. Möglich ist etwa, dass die per Werkvertrag beschäftigten Arbeitskräfte in die laufende Produktion des Auftraggebers eingebunden sind und ähnliche Aufgaben erledigen wie die Stammbelegschaft – aber zu schlechteren Konditionen. Gezahlt wird dann zum Beispiel Mindestlohn, aber nicht Tariflohn.

Warum soll es ein Verbot für eine einzelne Branche geben?

Die Bundesregierung reagiert damit auf die Corona-Ausbrüche in Schlachthöfen und auf die jahrelange Diskussion über schlechte Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Selbstverpflichtungen, schärfere Regeln und Kontrollen hätten keine Verbesserung gebracht, heißt es im Gesetzentwurf des Arbeitsministers.

Bislang vermitteln Subunternehmen viele Tausend Beschäftigte aus dem Ausland, die in den Schlachtereien in der Kälte stehen und zum Beispiel Schweine zunächst ausnehmen, in Hälften trennen und später in Einzelteile zerlegen. Untergebracht sind die Arbeiter meist in Wohngemeinschaften, mancherorts gibt es aber auch beengte Sammelunterkünfte. Und dafür wird den Betroffenen oftmals noch ein hoher Betrag vom Lohn abgezogen. Auch von „Messergeld“ für die Ausrüstung ist teilweise die Rede.

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Die neuen Regeln sollen sicherstellen, dass Schlachthofbetreiber die Verantwortung für Missstände nicht länger auf Subunternehmer abwälzen können, die über Werkverträge Arbeitsleistungen erbringen.

Laut Gesetzentwurf macht betriebsfremdes Personal in der Fleischindustrie vielfach über die Hälfte der Arbeitnehmer aus. Beschäftigte der verschiedenen Werkvertragsunternehmen und die Leiharbeitnehmer arbeiteten teilweise zusammen und führten vergleichbare Tätigkeiten aus.

„Dies führt zu einem nur schwer durchschaubaren Nebeneinander verschiedenster Beschäftigungsverhältnisse. Es sind in diesen Bereichen keine klaren Verantwortlichkeiten gegeben, was unter anderem dazu führt, dass auf die Einhaltung der arbeitsrechtlichen und arbeitsschutzrechtlichen Regelungen häufig nicht geachtet wird“, heißt es in dem Entwurf.

Was sieht der Gesetzentwurf genau vor?

Beim Schlachten, Zerlegen und in der Fleischverarbeitung dürfen Großbetriebe ab 2021 nur noch eigene Arbeitnehmer einsetzen. Ausgenommen von dem Verbot sind laut einem überarbeiten Entwurf des Gesetzes, über den Reuters berichtete, Unternehmen des Fleischerhandwerks mit bis zu 49 Beschäftigten.

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Das Arbeitsschutzkontrollgesetz schreibt zudem eine Mindestbesichtigungsquote bei Kontrollen vor: Ab 2026 soll pro Jahr mindestens jeder 20. Betrieb besucht werden. Die Arbeitszeit muss künftig zudem elektronisch aufgezeichnet werden, um Kontrollen zu erleichtern.

Was bedeutet das Vorgehen für andere Branchen?

Der Gesetzentwurf bezieht sich gezielt auf die Fleischindustrie. Doch Arbeitsminister Heil hat schon angekündigt, auch andere Branchen prüfen zu wollen. „Wir werden uns Branche für Branche angucken und dann für die jeweilige Branche geeignete Maßnahmen ergreifen, wenn es nötig ist“, sagte er.

Die Arbeitgeber fürchten weitreichende Einschränkungen. „Finger weg von einer allgemeinen Einschränkung von Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassung, wenn man nicht die Wirtschaft völlig abwürgen will“, hieß es zum Beispiel von Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Werkverträge seien zum Beispiel für weite Bereiche des Handwerks, der Bauindustrie und des Anlagenbaus zwingend die Grundlage für ihre Wertschöpfung beim Kunden.

Warum ist das Konstrukt überhaupt wichtig für die Wirtschaft?

Werkverträge sind zentral für die Zusammenarbeit und Arbeitsteilung zwischen Firmen und regeln auch Haftungs- und Gewährleistungsrisiken. Deutlich wird das am Beispiel der Automobilindustrie, wo Werkverträge laut ZEW-Forscherin Ganserer sehr verbreitet sind – nämlich zwischen Herstellern und Zulieferern.

Beide sind tarifgebunden, im Lohnniveau gibt es häufig kaum Unterschiede. Warum verbauen Beschäftigte der Zulieferfirmen Teile am Band des Autoherstellers? „Im Werkvertrag wird klar definiert, welches Werk zu leisten ist, fehlerfrei und entsprechend der vereinbarten Qualität.

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Für Kunden ist das nicht ersichtlich, für den Automobilhersteller aber im Fall einer Rückrufaktion wegen eines spezifischen Bauteils äußerst relevant“, erklärt Ganserer. Ist ein Teil defekt, erfolge der Rückruf erst mal durch den Hersteller. Der wiederum weiß eindeutig, welcher entsprechende Zulieferer verantwortlich ist und nun für Ersatz zu sorgen und vor allem die Kosten dafür zu tragen hat.

Beispiel Maschinenbau. „Die Unternehmen nutzen Werkverträge sowohl als Kunden als auch als Anbieter, weil sich anders eine auf Effektivität ausgerichtete Arbeitsteilung nicht aufrechterhalten lässt“, sagt Thilo Brodtmann, der Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). „Eine Welt ohne Werkverträge können wir uns nicht vorstellen.“

Allerdings wird das Arbeitsmodell in der Vorzeigebranche auch nicht im Niedriglohnsektor genutzt, sondern im wertschöpfenden Bereich, also vor allem bei hoch qualifizierten Spezialisten, etwa beim Bau von Robotern.

Wie geht es für die Fleischindustrie weiter?

Die deutsche Fleischwirtschaft hält das von der Bundesregierung geplante Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in ihrer Branche für verfassungswidrig, weil es ein massiver Eingriff in die unternehmerische Freiheit sei. Unter anderem der Wursthersteller Wolf lässt daher bereits eine Verfassungsklage prüfen. Außerdem rechnet die Branche bei einem Verbot mit deutlich steigenden Fleischpreisen und einer Abwanderung von Produktionskapazitäten ins Ausland.

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Ein Gutachten für das Düsseldorfer Gesundheitsministerium hatte allerdings ergeben, dass ein auf die Branche begrenztes Verbot rechtlich möglich ist. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnte indes vor neuen Schlupflöchern für die Fleischindustrie. Die Bundesländer müssten eine höhere Kontrolldichte erreichen.




July 29, 2020 at 01:53PM
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