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Friday, July 3, 2020

Psychologe zum Fleischkonsum der Deutschen: „Problem ist der männliche Proll“ - FOCUS Online

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„Fleisch ist Macht“ : „Problem ist der männliche Proll“: Experte sagt, warum wir immer noch Billigfleisch essen

Freitag, 03.07.2020, 11:56

Der Tönnies-Skandal deckt schonungslos die Missstände in deutschen Fleischfabriken auf. Dennoch kaufen viele Deutsche weiterhin Billigware. Im Gespräch mit FOCUS Online erklärt Ernährungspsychologe Christoph Klotter, warum Deutsche historisch bedingt wenig Geld für Fleisch ausgeben wollen - und warum ein großes Steak für viele gesellschaftliche Teilhabe bedeutet.

Das Thema „Fleisch“ ist so präsent wie nie zuvor. Seit dem Corona-Ausbruch beim nordrhein-westfälischen Branchenriesen sind Politik und Gesellschaft alarmiert. Umfragen zeigen, dass sich die Mehrheit der Deutschen jetzt für schärfere Gesetze in der Fleischindustrie ausspricht. Ein Wandel in der Branche ist also erwünscht. Dennoch kaufen viele weiterhin billige Steaks und Wurstwaren aus dem Supermarkt - ein Widerspruch, den Ernährungspsychologe Christoph Klotter erklärt.

FOCUS Online: Herr Klotter, was bringt die Menschen dazu, Billigfleisch zu kaufen?

Christoph Klotter: Für den Kauf von Billigfleisch gibt es verschiedene Gründe, es gibt verschiedene Menschen, die es kaufen. Der erste Grund: Sie können sich kein anderes Fleisch leisten. Ein Teil der Bevölkerung hat keine finanziellen Mittel, um sich teureres Fleisch zu leisten. Auf der anderen Seite wollen diese Menschen jedoch auch nicht darauf verzichten.

Denn Fleisch steht für Macht, für Wohlstand, kurz: für das Überleben. Über den täglichen Fleischkonsum nehmen sozial schlechter Gestellte sozusagen symbolisch am gesellschaftlichen Wohlstand teil. Dahinter steckt der Gedanke: „Wenn ich Fleisch esse, dann geht es mir gut“. Das Fleisch ist das Symbol des Überlebens.

Billigfleisch und Tierschutz

FOCUS Online: Es gibt auch Menschen, die sich für Tierschutz interessieren – und trotzdem Billigfleisch kaufen – wie passt das zusammen?

Klotter: Das stimmt, und das führt mich zum zweiten Grund: Der Mensch ist vollkommen widersprüchlich, er kann sich selbst perfekt täuschen, sich selbst belügen. Dass er paradox handelt, indem er sich auf der einen Seite für Tierwohl stark macht, auf der anderen Seite jedoch Billigfleisch isst, ist ihm nicht bewusst. Er kann über Tierschutz reden und gleichzeitig in eine Bratwurst beißen.

Der amerikanische Psychologe George A. Kelly erklärte das bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Der Mensch denkt in Konstrukten. Und diese Konstrukte können absolut widersprüchlich sein – und dennoch erleben wir unser Handeln als stimmig.

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Deutsche geben wenig Geld für Essen aus

FOCUS Online: Das bedeutet, das schlechte Gewissen hat in diesem Fall keine Chance?

Klotter: Ganz genau – denn es ist uns ja nicht bewusst, dass wir etwas „Schlechtes“ tun, wir blenden das aus. Es ist eher die Regel, der Alltag, die Normalität. Und hier kommen wir zu Punkt Nummer Drei: Die Deutschen geben historisch wenig Geld für Essen aus, für Qualität. Sie knausern. Darin unterscheidet sich der Deutsche beispielsweise vom Franzosen.

Während die Franzosen rund 30 Prozent ihres Gehalts für Lebensmittel ausgeben, ist es bei den Deutschen nur etwa 13 Prozent, das zeigen Daten von vor wenigen Jahren. Um es mit einem Spruch zu sagen, den ich im Internet gelesen habe: „Der Franzose fährt mit einem billigen Auto zum Restaurant, der Deutsche mit einem teuren Auto zum Imbiss“.

FOCUS Online: Heißt das, der Deutsche schätzt den Wert des guten, qualitativ hochwertigen Essens nicht?

Klotter: Nicht nur das. Er schätzt auch nicht das Drumherum – und das hat historische Ursachen. Wir definieren uns stets über Traditionen. In Frankreich kommen die Menschen seit Jahrhunderten zusammen, um zu essen, sie setzen sich abends stundenlang mit Familie und Freunden zusammen, sie genießen.

Die Deutschen haben hingegen schon immer wenig Sinn für Essen gehabt. Wie Tacitus, ein römischer Geschichtsschreiber, bereits 50 nach Christus schrieb: „Die Germanen sind schlechte Bauern, sie können nicht anbauen, sie können nicht kochen – und wer sie besiegen will, muss ihnen nur genug Bier geben“. Und heutzutage definieren wir Deutsche uns noch immer über Bier. Nicht über Genuss, über Qualität, wie etwa in Frankreich.

FOCUS Online: Ganz so barbarisch wie Tacitus unsere Vorfahren beschrieb, leben wir ja inzwischen nicht mehr. Immer mehr Menschen interessieren sich für eine gesunde Ernährung, treiben Sport und achten auf sich. Ist das am Ende nicht gesünder als das Genießen unserer Nachbarn?

Klotter: Das mag auf den ersten Blick so scheinen, die Forschung zeigt jedoch etwas ganz anderes. Es gibt das sogenannte „Französische Paradox“. Auch wenn die Franzosen im Schnitt ungesünder essen, schlechtere physiologische Werte haben als die Deutschen, besitzen sie die Unverschämtheit, länger zu leben.

Der Grund: Sie genießen. Sie sind zufrieden. Sie haben Rückhalt von ihren Liebsten. Der einsame Deutsche vor dem Fernseher hingegen, lebt kürzer.

Männlicher Proll isst Billigfleisch

FOCUS Online: Der „einsame Deutsche“ – derjenige, der Billigfleisch kauft?

Klotter: Exakt. Und vor allem derjenige, den Skandale wie jüngst bei Tönnies nicht aufrütteln werden. Der sich trotz gesellschaftlichem Wandel nicht für Nachhaltigkeit, für bewusste Ernährung interessiert. Das zeigen auch die Daten. Denn der Hauptteil der Fleischesser sind Männer. Männer, die sozial schlechter gestellt sind.

Früher waren Männer Krieger, Soldaten. Sie haben besser verdient. Während die Frau daheim war, gingen sie zur Arbeit. Es gab klare Rollenbilder, klare Machtverhältnisse. Heute ist das anders. Der Mann muss sein Selbstwertgefühl irgendwie kompensieren. Macht zeigen.

Und wenn er das nicht mit Geld oder teuren Autos kann, muss er eben einen anderen Weg finden – beispielsweise Fleisch essen. Das größte Problem beim Konsum von Billigfleisch ist, wenn man es überspitzt formulieren möchte, der männliche Proll.

 

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FOCUS Online: Abgesehen vom "männlichen Proll". Haben Sie denn noch Hoffnung, dass es hierzulande einen Bewusstseinswandel in puncto Ernährung geben wird?

Klotter: Dass sich ohnehin etwas tut, zeigen die Daten des Ernährungsreports, den das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft jährlich herausgibt. Immer mehr Menschen ernähren sich vegan oder vegetarisch. Insbesondere junge Menschen, die Millenials, achten darauf, was sie kaufen, sie haben ein Bewusstsein für Qualität.

Das zeigt auch ein Blick in die Supermarktregale, es werden laufend neue Fleischalternativen auf den Markt gebracht, auch Restaurants bieten immer mehr fleischfreie Gerichte an. Abgesehen davon schafft Corona etwas, was viele Skandale bisher nicht geschafft haben. Es verändert sich etwas.

Bei früheren Skandalen herrschte für einige Wochen vielleicht Irritation – danach kehrten die Menschen wieder zum Gewohnten zurück. Bei Corona ist das anders, diese Krise geht uns allen zu nah. Corona wird Spuren hinterlassen - auch bei der Ernährung, auch beim Fleischkonsum. Das hoffe ich zumindest.

Fleischersatz als gute Alternative

FOCUS Online: Essen Sie selbst noch Fleisch?

Klotter: Schon seit Jahren nicht mehr. Allerdings brauche ich auch keine Fleischalternativen, keine Tofu-Würstchen oder Veggie-Hack. Dennoch sind solche Produkte für viele sicher eine gute Alternative, um sich den übermäßigen Fleischkonsum nach und nach abzugewöhnen. Um einen Kompromiss zwischen ethischen Grundsätzen und dem Verlangen nach Wohlstand zu finden.

Deshalb will ich diese Produkte auch nicht verteufeln. Es ist gut, dass sich in dieser Branche etwas tut. Dass Unternehmen Überzeugungsarbeit leisten, indem sie auf Nachhaltigkeit achten, für die Umwelt sensibilisieren. Auch wenn wir das oft erst beim Blick ins Supermarktregal mitbekommen, wenn vieles an uns vorbei geht – es gibt Widerstand gegen Fleisch. Es ist nur eine stille Revolution.

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July 03, 2020 at 05:02PM
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