Industrie droht derselbe Verfall Geldgeber ziehen ab, Verbraucher denken um: Wird Fleisch das neue Öl? 02.08.2020 | 09:20
Der Tönnies-Skandal hat die Verbraucher alarmiert: Beim großen Fleischproduzenten werden Arbeiter ausgebeutet und die Zulieferer des Unternehmens behandeln ihre Tiere mehr als nur schlecht. Die Coronavirus-Krise hat diese Missstände ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, als es bei Tönnies eine Masseninfektion gab. Inzwischen schlachtet die Firma wieder - doch es scheint, die Konsumenten verzeihen der Fleischindustrie nicht mehr alles.
Laut einer Umfrage des Finanzportals "Blockbuilders" wollen 55 Prozent der Deutschen künftig weniger Fleisch essen. Blockbuilders-Analyst Raphael Lulay ist überzeugt, dass die Lebensmittelindustrie vor einem fundamentalen Wandel steht.
Fleischindustrie macht weiter Umsatz, aber Gewinne schmelzen
Sicher ist jedenfalls, dass Verbraucher ein immer stärkeres Interesse daran entwickeln, wo die Nahrungsmittel herkommen, die sie konsumieren, wie diese produziert werden und welche Stoffe sie enthalten. Darunter leidet die Fleischindustrie. Doch: Die internationalen Branchenriesen Cargill, Tyson Foods und JBS verzeichnen immer niedrigere Gewinne und eine negative Kursentwicklung. Ende Juli 2019 stand die Aktie des US-Produzenten Tyson Foods bei 72 Dollar, ein Jahr später kostet das Papier nur noch knapp 52 Dollar.
Investoren ziehen sich zurück
Und auch Investoren verlassen die Fleischproduzenten: Nordea Asset Management hat sich von seinen Anteilen an dem brasilianischen Fleischkonzern JBS getrennt. Das schreibt die "Süddeutsche Zeitung". Grund für das Divestment sind Berichte über eine zumindest indirekte Beteiligung des Fleischkonzerns an illegalen Rodungen im Amazonas.
JBS ist ähnlich wie Tönnies immer wieder in die Kritik geraten - und genau wie der deutsche Fleischproduzent haben die Brasilianer kaum Willen zu Veränderung gezeigt. Allein in Brasilien schlachtet JBS 35.000 Rinder am Tag. Das Fleisch wird in die ganze Welt verkauft - auch nach Deutschland. Wegen eines riesigen Korruptionsnetzwerks wurde der Konzern bereits zu einer Milliardenstrafe verurteilt. Dazu kommt, dass das Unternehmen zwar beteuert, aktiv gegen illegale Abholzung vorzugehen, es aber immer wieder Anzeichen gibt, dass Rinder, die auf gerodeten Urwaldflächen geweidet haben, in die Lieferketten gelangen.
Nordea ist nicht der einzige große Kapitalgeber, der seine Engagements bei Firmen überdenkt, die weder Umweltstandards einhalten, noch Tierwohl garantieren können. Auch andere Investmentfonds haben in den vergangenen Wochen angekündigt, ihre Portfolios in Hinblick auf brasilianische Firmen und deren Verstrickung mit der Zerstörung des Amazonas überprüfen zu wollen, schreibt die "Süddeutsche Zeitung".
Fleischproduzenten wie Tönnies erweitern Sortiment
Die Konzerne bemühen sich, auf die veränderte Wahrnehmung von Geldgebern und Konsumenten zu reagieren - indem sie beispielsweise ihr Portfolio erweitern. Dazu Lulay: "Selbst klassische Fleischbetriebe diversifizieren inzwischen stärker und nehmen vegetarische und vegane Lebensmittel in ihr Produktsortiment auf."
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Allerdings: Dieser Markt ist bereits besetzt. Während die großen Fleischproduzenten jahrelang an ihren Konzepten festhielten und weiter Hack zu Billigpreisen in die Regale brachten, waren sich andere bereits bewusst, dass der Abgesang auf die Fleischberge begonnen hat. Start-ups haben das Segment Fleischersatz für sich entdeckt - sie könnten die großen Gewinner des Wandels der Industrie sein.
Sie werden gestützt von Großinvestoren, die bereits seit Jahren ein auffälliges Interesse an der Veggie-Ernährung zeigen und mit teils immensen Summen die entsprechenden Geschäftsmodelle finanzieren. Die positive Entwicklung der Jungunternehmen lässt sich sehr einfach belegen: Der Börsenwert von Beyond Meat stieg seit Jahresbeginn um 64,1 Prozent. Und auch Bio Gaia verzeichnete ein Plus von 21,5 Prozent.
Laut Blockbuilders könnten bis zum Jahr 2040 bereits rund 60 Prozent der Fleischprodukte durch pflanzliche Alternativen ersetzt worden sein. Der Appetit der Konsumenten steigt stetig: Das zeigen auch Zahlen der letzten Monate. Zwischen der zehnten und der 22. Kalenderwoche erzielten die Lebensmittelgeschäfte in Deutschland 59 Prozent höhere Umsätze mit veganen Produkten, als noch im Vorjahreszeitraum. Bei vegetarischen Produkten gibt es ein Plus von 39 Prozent.
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Branchenriesen kaufen zu
Die Industrie muss sich also schleunigst ihren Marktanteil sichern, wenn sie dem Untergang entgehen will. Tatsächlich werden die Branchenriesen aktiv. Neben den neuen fleischlosen Produkten im eigenen Sortiment gehen sie fleißig auf Einkaufstour. Tyson Foods hat in das Start-up New Wave Foods investiert, das an pflanzenbasierten Fischprodukten arbeitet, außerdem in Myco Technologies - ein Jungunternehmen, das Fleisch im Labor züchten will.
Zumindest einen Trumpf haben die Etablierten dabei im Ärmel: Sie kennen sich aus mit Fleisch und können diese Expertise einbringen, wenn es darum geht, ein möglichst authentisches Ersatzprodukt zu entwickeln. Fleisch könnte die nächste Kohle sein, das nächste Öl - sind die Konzerne aber bereit, sich zu verändern, muss ihr Untergang nicht bevorstehen.
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